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„Für mich ist NewWork im Kern ein menschlicher Reifungsprozess, den ich als eine spannende Einladung für neue Formen der Zusammenarbeit verstehe.“

Dieses sinngemäße Zitat von Joana Breidenbach bei ihrem Vortrag auf der „XING NewWork Sessions OWL (Juni 2019, Bielefeld) inspiriert mich diesen Impuls anhand eigener Erfahrungen zu reflektieren.

Wie für viele von uns war auch Joana von Frederic Laloux´ Buch „Reinventing Organizations“ fasziniert. In den dort beschriebenen Unternehmen arbeiten die Menschen in selbstorganisierter Form zusammen. Sie haben kein Management, oftmals keinen hierarchisch bestimmten Chef und es steht der Mensch im Mittelpunkt. Führung ist dezentralisiert und die Zusammenarbeit geschieht ebenfalls oft über Netzwerke verteilt.

NewWork needs InnerWork

Im gleichnamigen Buch von J. Breidenbach und B. Rollow beschreiben sie das Vorgehen bei ihrem Experiment, dem eigenen Transformationsprojekt bei betterplace lab. Von einer hierarchischen Organisationsstruktur entwickelte das Team sich zu einer selbstorganisierten Netzwerkorganisation. Und alle Beteiligten hatten die Erwartung, dass es sie motiviert und dass sie zu einem kraftvollen, effizienten Team wachsen. Doch schnell stellte sich heraus, dass dies nicht eingetreten war. Was war passiert?

In den Teams gab es eine eher gedrückte und ängstliche Stimmung. Es wurde eine Art der Lähmung wahrgenommen und niemand wollte Entscheidungen treffen, alles sollte im Konsens entschieden werden. Im ersten Schritt trat genau das Gegenteil von dem ein, was die Erwartung war. Sie standen vor einem Dilemma. Wie sollten sie jetzt damit umgehen? Zurück zu den alten Strukturen, oder auf Basis von Ursachenforschung den nächsten Schritt wagen. Sie sind und waren ein Lab. Also nach den Ursachen forschen. Eine Standortbestimmung half dabei. Externe Energie bot Hilfe zur Selbsthilfe: Bettina Rollow hatte als Coach diese „äußere Transformation“ (Strukturen & Prozesse sowie Skillset & Verhalten) begleitet und jetzt galt es eine innere Transformation mit Energie von Außen (Coaching) gemeinsam zu bewältigen.

 

Grundbedürfnisse des Menschen – Zugehörigkeit und Autonomie

Die erste wichtige Erkenntnis lag darin, sich die persönlichen Bedürfnisse der Menschen im Unternehmen bewusst zu machen. Wie eine geschlossene Möbiusschleife (vgl. Abbildung) schwanken die Grundbedürfnisse des Einzelnen zwischen den Polen der Zugehörigkeit und der Autonomie. Es gibt Menschen, die mehr Sicherheit, mehr Halt und damit Zugehörigkeit für ihr persönliches Wohlbefinden brauchen. Während andere mehr Freiheit, mehr Autonomie und mehr Wachstum für ihre Zufriedenheit beanspruchen. Die persönliche Balance kann völlig unterschiedlich aussehen.

Grundbedürfnisse des Menschen

Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit und Autonomie – in Anlehnung an Keks Ackerman CC BY-NC

Jeder hat in unterschiedlichen Kontexten, unterschiedliche Gewichtungen dieser Grundbedürfnisse. Während der eine bei der Ausübung seines Hobbys, zum Beispiel Bergsteigen, gerne neue Routen mit hohem Risiko am liebsten allein bewältigt, braucht derselbe Mensch im beruflichen Kontext als Ingenieur eine hohe Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Abgesehen davon, dass das Verhalten des Einzelnen vom Kontext abhängt, ist es auch eine Frage der Sozialisierung. Bin ich hierarchische Strukturen im Unternehmenskontext über viele Jahre gewohnt, ist es eine große Herausforderung, im Laufe eines Veränderungsprozesses immer mehr Verantwortung bis hin zur vollen Selbstorganisation zu übernehmen. Von der Sicherheit, der Chef entscheidet, hin zur Unsicherheit, selbst Cheffunktionen auf sich zu nehmen. Und damit das Risiko Entscheidungen zu treffen, die retrospektiv manchmal im besten Fall Lernen nach sich ziehen.

Bei dem Veränderungsprozess von betterplace lab ist, zunächst unbeachtet dieser Grundbedürfnisse, die Zugehörigkeit, die durch die Hierarchie, feste Rollenprofile und Rahmenbedingungen bestand, drastisch reduziert worden. Dadurch verloren die Menschen ihre Sicherheit im Außen und waren deshalb von der neuen Freiheit völlig überfordert. Demnach reicht es nicht am System, am Kontext allein, zu arbeiten. Die Arbeit am und mit dem Einzelnen ist letztlich wichtiger Bestandteil eines solchen Veränderungsprozesses. Es gilt die menschlichen Grundbedürfnisse in eine individuell angemessene Balance zu bringen.

 

Nicht nur am Außen, sondern besonders am Innen ist Veränderung notwendig

Die nächste zentrale Erkenntnis war die, dass bei dem Veränderungsprozess „das Außen“ zwar beachtet, „dem Innen“ aber zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Was mit „Außen“ und „Innen“ gemeint ist, macht die nächste Abbildung deutlich.

AQAL-Modell

AQAL-Modell (all Quadrants, all Levels), in Anlehnung an Keks Ackerman CC-BY-NC, basierend auf Ken Wilber

Während bei den meisten Transformationen an Strukturen und Prozessen sowie manchmal an den individuellen Fähigkeiten (Skillset) und dem Verhalten gearbeitet wird, bleibt unter der Wasseroberfläche (vgl. Eisbergmodell der Kommunikation), einiges nicht sichtbar. Das Mindset, die Haltung und Psyche des Einzelnen sowie die Kultur und Kommunikation bleiben verborgen. So können zum Beispiel tiefsitzende Glaubenssätze dazu führen, dass Menschen innerlich Überzeugungen haben, die für solche Veränderungsprozesse hinderlich sind. Nehmen wir einen typischen Glaubenssatz eines Chefs: „Niemand macht es so gut wie ich.“ Für echte Kollaboration ist diese Überzeugung ein No-Go. Loslassen alter innerer Strukturen ist angesagt.

Für mehr Selbstorganisation ist eine Kommunikation auf Augenhöhe mit mehr Transparenz notwendig. Zum Beispiel darf in Projekten allen Beteiligten zu jeder Zeit der aktuelle Projektstand offengelegt und am besten visualisiert werden. Das Einbeziehen des Einzelnen in die Visualisierung führt oft zu höherem, individuellem Commitment. Dadurch ändert sich sukzessive die ganze Unternehmenskultur.

 

Dynamische Balance zwischen Innen und Außen

Es gibt kein „Best-Practise“ oder gar eine genaue Blaupause dafür, wie viel hierarchische oder selbstorganisierte Struktur in einem Unternehmen passend ist. Jede Organisation darf sich auf den individuellen Weg machen und eine dynamische Balance zwischen dem Innen und dem Außen finden. Fest steht nur, je mehr es in Richtung selbstorganisiert geht, umso mehr ist die Arbeit am Innen notwendig. Je mehr Selbstorganisation gefordert ist, umso mehr darf der Einzelne an seinem Innern arbeiten. In uns selbst Orientierung und Sicherheit finden, ist die Herausforderung.

Was wir von der betterplace lab Transformation lernen können ist, dass ein Wandel im Außen nur erfolgreich verlaufen kann, wenn wir den Menschen als Ganzes mit seinem „Inneren“ einbeziehen. Insofern handelt es sich bei jeder tiefgreifenden Organisationsentwicklung um einen ganzheitlichen, menschlichen Reifungsprozess.

Wie können Organisationen diese Mehrfachbelastung, das Arbeiten im System, am System und mit den Menschen bewältigen? Im Falle von betterplace lab sind sich alle Beteiligten einig, es braucht zusätzlich externe Energie, in Form von Coaching und Team-Coaching.

 

Das Team wird Chef – kompetenzbasiertes Führen

Was ist im Verlaufe des Veränderungsprozesses durch die Arbeit am Innen und am Außen herausgekommen? Eine neue angemessene Form von Führung, die kompetenzbasierte Führung. Eine Art der Führung, die temporär besteht und darauf beruht, dass derjenige, der in einem konkreten Bereich am kompetentesten ist, für einen festgelegten Zeitraum Führung übernimmt und den Prozess anleitet. D.h. hier entsteht Führung nicht durch fest vergebene Rollen in einer Hierarchie, sondern über temporäre Mandate, die auf einer gemeinsam geteilten Wahrnehmung von Kompetenz beruhen.

Und das ist nicht einfach! Kompetenzbasierte Strukturen setzen selbstreflektierende Menschen voraus, die wissen, was sie können und wo sie an ihre Grenzen stoßen. Im Team muss es dazu einen offenen und empathischen Dialog geben. Die Teammitglieder müssen den Mut haben, ehrlich zu sein und ggf. einem Kollegen sagen zu können, dass sie seine Fähigkeiten anders einschätzen. Damit nicht statt Selbstorganisation eine Basisdemokratie entsteht, die den meisten Menschen großen Frust bereitet, hat das Team eine Verfassung entwickelt. Diese Verfassung hilft allen Beteiligten zu wissen und zu akzeptieren, nach welchen Regeln die Prozesse im Unternehmen ablaufen. In der Einleitung heißt es dazu: „Eine türkise Organisation mit kompetenzbasierter Hierarchie braucht einen strukturellen Anker. Diese Verfassung ist unser Anker.”

Fazit

Wie schon oben betont gibt es keine Standardvorlage, um einen solchen Veränderungsprozess zu gestalten. Die Geschichte von Joana Breidenbach und ihrem Team bietet jede Menge Inspiration für alle, die sich auf den Weg machen wollen. Darüber hinaus enthält das Buch einen wertvollen Anhang mit einem Fragenkatalog zur Selbstorganisation und einer Reihe von Übungen. Mit diesen bietet Bettina Rollow, die ein gutes Fundament, um zentrale Themen der Organisationsentwicklung und Unternehmenskultur bewusst zu machen.

Ebenso findet der interessierte Leser in der betterplace lab Verfassung eine Reihe inspirierender Ideen mit einem nützlichen Anhang für die Umsetzung. Für mich persönlich ist diese Erfolgsgeschichte eine wunderbare Bestätigung unserer Erfahrungen in den letzten zwei Jahren: Die Veränderung fängt bei jedem Einzelnen an und je mehr selbstorganisiert, umso mehr darf jeder an seinem Inneren, an seinem Mindset arbeiten.

 

Literaturempfehlung*

Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Frederic Laloux, 2016

New Work needs Inner Work: Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation, Joana Breidenbach, Bettina Rollow, 2019

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