Segelfliegen, eine geeignete Metapher für Komplexität? Segelfluggelände Bisperode West, Wind aus Richtung Süd-Südwest mit 20 – 25 km/h. Auf der Graspiste 24 stehe ich in einem Discus 2C am Start. Ein etwa 1.200 Meter langes Stahlseil ist eingeklingt. Ich melde: „Bisperode Start, D-3044 abflugbereit“. Kurze Bestätigung vom Flugleiter und das Seil zieht an. Volle Konzentration im Hier und im Jetzt. Die Winde am anderen Ende des Platzes bringt mich und den Discus mit ihren 320 PS in ca. zwei Sekunden von 0 auf 100 km/h. Abgehoben – leichter Höhenruderausschlag – mit Querruder die Lage stabilisiert – zusammen mit den Seitenruderpedalen leicht gegen den Wind vorhalten – Fahrtenmesser zeigt 120 km/h – das passt. Höhenkontrolle – der Höhenmesser folgt der erreichten Höhe zu langsam – ein Blick nach draußen hilft. Gut 100 Meter Höhe – Höhenruder weiter ziehen – Steigwinkel jetzt etwa 45-50 Grad. Wenige Sekunden später ist die Ausklinkhöhe von ca. 400 Meter erreicht. Nachdem wir einen Winkel von ca. 70 Grad überflogen haben, klinkt der Discus selbständig aus. Zur Sicherheit dreimal nachklinken – Fahrwerk einfahren und jetzt? Jetzt wird es interessant!
Kompliziert oder komplex – was macht den Unterschied?
In unseren Workshops zur Einführung agiler Handlungsrahmen klären wir zu Beginn einige grundlegende Verständnisfragen. So auch die Frage nach dem Unterschied zwischen kompliziert und komplex. Diesen klar zu äußern, fällt vielen Menschen nicht ganz leicht. Als begeisterter Segelflieger verwende ich inzwischen eine Metapher, die den Unterschied nachvollziehbar macht.
Lassen Sie uns mit der Frage starten: Was ist komplizierter, ein Motorflugzeug oder ein Segelflugzeug? Die Frage wird von den meisten intuitiv, ohne den Blick in ein Cockpit, beantwortet. Ein Motorflugzeug ist schon deshalb komplizierter aufgebaut, weil es einen Motor hat und dieser gesteuert, geregelt und kontrolliert werden muss. Neben diesen Elementen sind oft weitere Navigationsinstrumente, Luftschraubensteuerung, Transponder, Instrumentenflugausrüstung und möglicherweise Autopilotensteuerung vorhanden. Alles Ausrüstungsmerkmale, die ein typisches Segelflugzeug nicht hat. Im Cockpit eines Segelflugzeuges sieht es übersichtlich aus: Fahrten- und Höhenmesser, Variometer, Funkgerät und ggf. ein FLARM (Kollisionswarngerät). Inzwischen kommt oftmals ein modernes Navigationssystem hinzu, das gleichzeitig neben der Navigation zusätzliche Informationen liefert.
Halten wir fest: Ein Motorflugzeug ist im Vergleich mit einem Segelflugzeug kompliziert. Ein Segelflugzeug ist einfacher aufgebaut und zu bedienen. Wie sieht es mit dem Fliegen aus?
Motorfliegen ist kompliziert – Segelfliegen ist komplex
Motorfliegen ist auf jeden Fall aufgrund der zusätzlichen Bedienelemente und Instrumente komplizierter. Abhängig vom einzelnen Muster (Flugzeugtyp) kann für den Piloten das Motormanagement allein besonders anspruchsvoll sein. Und genau das gibt es bei einem reinen Segelflugzeug nicht.
Nicht selten treffe ich auf Menschen, die sich nie in ein Segelflugzeug setzen würden, “weil man ja nicht weiß, was passiert”. Meine Antwort darauf ist recht simpel: Das Segelflugzeug hat einen entscheidenden Vorteil: Der Motor kann nicht ausfallen. Die Fahrt mit dem Auto zum Flugplatz ist statistisch gesehen viel gefährlicher als das Fliegen.
Vielleicht ist die Vorannahme „man weiß ja nicht, was passiert“ genau das, was diesen Menschen Unbehagen bereitet. Es ist nicht 100%ig vorhersagbar. Diese Vorstellung verunsichert viele Menschen. Und gleichzeitig ist es eine Illusion, selbst in vielen anderen täglichen Situationen anzunehmen, dass alles berechenbar wäre. Segelfliegen ist komplex, weil es nicht genau vorhersagbar ist.
Was macht das Segelfliegen komplex?
Ganz einfach, der fehlende verlässliche Antrieb. Beim Segelfliegen sind wir auf Aufwinde angewiesen, um in der Luft zu bleiben. Der Discus 2C zum Beispiel hat eine Gleitzahl von ca. 45. Das heißt, wenn das Flugzeug 100 Meter Höhe abgleitet, kann es ca. 100 m x 45 = 4,5 km in völlig ruhiger Luft zurücklegen. Diesen Idealfall gibt es in der Praxis nicht. Wenn irgendwo Luft aufsteigt, weil sie feuchter oder wärmer ist als die Umgebungsluft (wir sprechen dann von Thermik), dann strömt zum Ausgleich auch wieder Luft von oben nach unten nach. Es entstehen Abwinde.
Zurück zum eingangs geschilderten Beispiel. Bei einer Ausklinkhöhe von ca. 400 Metern habe ich genau 200 Meter zur Verfügung, um den nächsten Aufwind gefunden zu haben. Warum nur 200 Meter? Weil ich mit einer Sicherheitshöhe von 200 Metern in der Platzrunde den Landeanflug beginne. Wenn es keine Luftbewegungen gäbe, könnte ich im Idealfall ca. 9 Kilometer weit fliegen, um anschließend den Landeanflug einzuleiten. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von ca. 90 km/h ist das eine Zeitspanne von 6 Minuten, in der ich meine Entscheidungen treffen darf. Welche Entscheidungen? Einkreisen, weil ich einen Aufwind gefunden habe, oder weiterfliegen, um den nächsten zu finden. Und das ist genau die komplexe Herausforderung beim Segelfliegen: den nächsten Aufwind finden und die Abwinde meiden. In der Praxis bedeutet das, möglichst lange im Aufwind zu kreisen und möglichst schnell die Abwindzonen zu durchfliegen.
Wie gehen Segelflieger mit der Komplexität um?
Zunächst einmal ist Segelfliegen eine mentale Herausforderung. Segelflieger haben gelernt, dass es möglich ist, Aufwinde zu finden und damit im Streckenflug mehrere hundert und bis zu über tausend Kilometer ohne Unterbrechung an einem einzigen Tag zu fliegen. Und das ist im Glaubenssystem, dem Mindset des Segelfliegers fest verankert, weil er es bereits in der Ausbildung selbst erlebt hat. Was nicht heißt, dass jeder Segelflieger oft so weite Strecken fliegt.
Voraussetzung ist eine ideale Wetterlage und eine sehr gute Vorbereitung. Dazu gehören neben einem angemessenen Wetterbriefing, ein einwandfreies technisches Gerät, die Ver- und Entsorgung während des Fluges, die zugesagte Rückholung (im Falle einer Außenlandung) und natürlich die Streckenplanung. Wie soll denn eine Streckenplanung ohne die Gewissheit eines Antriebes funktionieren? Hier ist sie wieder, die Komplexität. Zunächst ist die Streckenplanung eine Wunschvorstellung eines fliegerischen Ziels – nicht mehr.
Zurück zur Ausklinkhöhe von 400 Metern. Es gilt, ohne Verzögerung und entschlossen zu handeln. Segelflieger haben gelernt, die Natur von oben genau zu beobachten. Wenn geeignete Cumulusbewölkung vorhanden ist, dann sollte die nächste Wolke angeflogen werden, um sie zu testen. Gibt es unter dieser Wolke aufsteigende Luftmassen, die zum Aufsteigen genutzt werden können? Sobald das Vario ein Steigen anzeigt, beginnt das für den Segelflug typische Einkreisen in Winkeln zwischen 45-60 Grad. In dieser Kurvenlage wird dann solange gekreist, bis ein bestimmter Wolkenabstand (Sicherheitsabstand im Luftraum E vertikal 1000 ft) oder das Ende der Thermik erreicht ist. Noch in dem letzten Kreis wird in Richtung der Wunschroute nach der nächsten Möglichkeit für einen Aufwind Ausschau gehalten und diese entschlossen angeflogen. Segelflieger nutzen neben der Navigation per Luftfahrerkarte, die terrestrische, topologische und meteorologische Navigation. Sie schneiden ihre Flugabschnitte so klein, dass sie mit hoher Gewissheit das nächste Mikroziel erreichen können. Diesen Vorgang wiederholen sie auf der gesamten Strecke immer wieder. Auf diese Weise erfliegen sie sich inkrementell und iterativ die oben genannten Strecken, die häufig der Wunschplanung entsprechen.
Was können wir von den Segelfliegern lernen?
Komplexe Situationen sind weder exakt planbar noch kontrollierbar. Wir können nur lernen, damit umzugehen. Das heißt nicht, dass wir gar nicht planen können. Es macht nur keinen Sinn, alle Details planen zu wollen. Segelfliegen verlangt einen agilen Handlungsrahmen. Dieser könnte wie folgt zusammen gefasst werden:
- Prüfe dein Mindset: Glaubst du fest daran, dein Ziel zu erreichen?
- Triff alle Vorbereitungen, die verlässlich möglich sind und nicht mehr.
- Plane dein Wunschziel, nach bestem Wissen und Gewissen.
- Vermeide Verzögerungen, handel entschlossen und voll fokussiert.
- Wähle ein Mikroziel, das du mit Gewissheit erreichst.
- Nutze das Feedback nach jedem Mikroziel für Verbesserungen.
- Bleib dran, wiederhole Schritt 4. bis 6. und werde immer besser.
- Scheitern ist auch eine Option – triff dazu rechtzeitig die Entscheidung.
Gekonntes Scheitern als Option für Veränderung
Der letzte Punkt, dass Scheitern auch eine Option ist, wird häufig nicht akzeptiert. Was bedeutet Scheitern? Beim Segelfliegen ist es die oftmals in den Medien als „Notlandung“ bezeichnete „Außenlandung“. Hier wiederum können wir vom Segelfliegen lernen. Es fängt bei der Wortwahl an. Die Außenlandung ist eine Option für einen Segelflieger, der keinen Aufwind mehr gefunden hat. Ein eindeutiges Feedback. Er landet außen, also nicht auf einem Flugplatzgelände. Das heißt, das Scheitern im Segelflug ist nicht nur eine Option, sondern gehört zum Ausbildungsprogramm und sollte jedem Segelflieger gegenwärtig sein. Dabei ist es entscheidend, rechtzeitig in angemessener Höhe die Entscheidung zu treffen, um mit der komplexen Situation umgehen zu können. Eine zu spät getroffene Entscheidung für das entschlossene Handeln, kann verheerende Auswirkungen haben. Bei einer rechtzeitigen Entscheidung ist der Pilot wieder um eine Erfahrung reicher. Und Erfahrung lässt sich durch nichts ersetzen, außer durch noch mehr Erfahrung.
Insofern ist Scheitern ein Feedback, das wir für die Veränderung unserer Vorgehensweise nutzen können. Beim Scheitern ist das Mindset entscheidend. Wenn wir darauf mental vorbereitet sind, dass Scheitern eine Option ist, dann können wir gelassener mit Komplexität umgehen und uns sogar in gewissem Umfang darauf vorbereiten. Wenn wir statt Scheitern, das Wort Feedback und statt Fehlerkultur, Feedbackkultur verwenden, ist ein wertvoller Anfang gemacht. Wer früh und schnell scheitert, hat die Chance, früh und schnell zu lernen. Wer das in einem guten State, in gehobener Gestimmtheit schafft, kann unbeschwert wachsen.
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