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Auf die Frage: „Welches sind Leitwerte in eurer Organisation?“ höre ich häufig die Antwort: „Wir sind schon seit vielen Jahren eine lernende Organisation…“.

Wenn ich daraufhin weiter frage: „Auf welchen Ebenen und in welchem Rhythmus führt ihr Retrospektiven durch?“ stellt sich in den meisten Fällen heraus, dass dieses äußerst wirksame Tool nicht systematisch und schon gar nicht konsequent genutzt wird. Also in diesem Beitrag geht es darum, die Axt zu schärfen…

Die lernende Organisation

Das Konzept der lernenden Organisation geht auf Peter M. Senge zurück, der es in den 1980-90er Jahren entwickelt hat. In seinem Buch “Die fünfte Disziplin: Die Kunst und Praxis der lernenden Organisation” beschreibt Senge, wie Organisationen lernen und sich verbessern können, indem sie fünf Disziplinen einbeziehen: eine gemeinsame Vision, persönliche Meisterschaft, Mentalmodelle, Teamlernen und Systemdenken.

Senge argumentiert, dass Organisationen, die in der Lage sind, sich laufend zu verbessern und neues Wissen und Fähigkeiten aufzubauen, erfolgreicher sind, da sie sich an sich verändernde Umgebungen und Herausforderungen anpassen können. Er betont auch, dass es wichtig ist, dass alle Teammitglieder bei der Entwicklung und Umsetzung von Verbesserungen beteiligt sind und dass die Unternehmenskultur offen und unterstützend sein muss, um das Lernen zu fördern.

Wozu dienen Retrospektiven?

Organisationen sind heutzutage mehr denn je Komplexitäts- und Veränderungskontexten ausgesetzt. Die VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambiguity) stellt Herausforderungen an Unternehmen, denen sie sich stellen müssen, um zu überleben und zu wachsen. Zwei Schlüsselpraktiken, die eine lernende Organisation unterstützen, sind Retrospektiven und Feedback.

Retrospektiven sind regelmäßige Meetings, in denen Teams oder Abteilungen über ihre Aktivitäten reflektieren und evaluieren, um aus den gemeinsamen Erfahrungen zu lernen (Teamlernen führt zur lernenden Organisation). Sie bieten einen Rahmen, in dem sich Mitarbeitende ehrlich äußern können, bevor Probleme außer Kontrolle geraten. Durch die Retrospektive wird ein gemeinsames Verständnis dafür geschaffen, was gut läuft und was verbessert werden muss, um zukünftig bessere Ergebnisse zu erzielen.

Was ist das Ziel von Retrospektiven?

Das Ziel einer Retrospektive ist es, aus vergangenen Ereignissen zu lernen und die Zukunft des Teams zu verbessern.

Retrospektiven werden grundsätzlich drei Hauptphasen eingeteilt:

Vergangenheit betrachten: In dieser Phase wird das Team die vergangenen Ereignisse untersuchen und alle wichtigen Themen identifizieren, die es besprechen möchten.

Verbesserungen identifizieren: In dieser Phase wird das Team Ideen entwickeln, wie es seine Arbeitsprozesse oder die Zusammenarbeit verbessern kann. Es wird auch Maßnahmen festlegen, die es ergreifen möchte, um diese Verbesserungen umzusetzen.

Zukunft planen: In dieser Phase wird das Team einen Plan erstellen, wie es die identifizierten Verbesserungen in die Praxis umsetzen kann. Es wird auch Verantwortlichkeiten zuweisen und einen Zeitplan festlegen.

In welchem Rahmen werden Retrospektiven durchgeführt?

Um Retrospektiven für die lernende Organisation wirksam werden zu lassen, sollte das Team sicherstellen, dass sie regelmäßig stattfindet und alle Teammitglieder daran teilnehmen. Es ist auch wichtig, dass das Team die identifizierten Verbesserungen tatsächlich umsetzt und die Ergebnisse der Retrospektive dokumentiert, um zukünftig darauf zurückgreifen zu können.

Verbundenheit und Vertrauen benötigen psychologische Sicherheit. Für mehr Verbundenheit und Vertrauen ist daher entscheidend, dass das Team die Retrospektive als geschützten Raum betrachtet, in dem jedes Teammitglied frei sprechen und Ideen einbringen kann, ohne Angst vor Kritik oder Restriktionen zu haben. Eine gute Moderation und eine positive Einstellung des Teams sind wichtig, um sicherzustellen, dass die Retrospektive effektiv ist.

Wie sieht eine wertschätzende Moderation aus?

Retrospektiven sollten gut vorbereitet werden, damit sie den besten Nutzen stiften. Es geht um das gemeinsame Wachsen und stetige Verbessern. Es geht nicht darum, Schuldige zu suchen und Verantwortung von uns zu weisen. Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern.

Intro

Die Struktur wertschätzender Retrospektiven folgt den fünf Phasen, wie sie von Esther Derby und Diana Larsen beschrieben wurden (vgl. E. Derby, D. Larsen) ergänzt um die Intro. Diese Ergänzung hilft besonders im Anfang den Teams dabei, dass die Teamregeln für die Retrospektive geklärt oder wiederholt werden. Später kann sie auch wieder entfallen!

Die 6 Phasen einer Retrospektive

Je nach Erfahrung der Beteiligten geht es in der Einführungsphase (Intro) darum, sich das “Wozu?” brauchen wir eine Retrospektive bewusst zu machen. Im Intro wird die Agenda vorgestellt, ggf. die Vegas-Regel und die oberste Direktive unserer Haltung, sowie weitere Teamregeln.

Eine Retrospektive ist nur dann wirksam, wenn alle offen sprechen. Vertrauen und Vertraulichkeit sind sehr wichtig. Es gilt die sogenannte Vegas-Regel: “What happens in Vegas, stays in Vegas”. Das heißt, alles, was dort besprochen wird, bleibt bei denen, die dabei waren. Es sei denn, wir vereinbaren gemeinschaftlich am Ende der Retro eine Öffnung.

Zur Haltung erinnern wir uns an ein wertschätzendes Menschenbild in der Form: “Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass alle Beteiligten zu jedem Zeitpunkt nach bestem Wissen, Gewissen und Kenntnisstand gehandelt haben”.

Einstimmen

Die zweite Phase dient zur Einstimmung aller Beteiligten. Es geht darum, mit guter Energie in den Flow zu kommen, so dass sich alle auf die Retrospektive konzentrieren können. Die einfache Frage nach dem letzten “Zauberlächeln” kann genau diesen Zustand induzieren. Jede Person kommt während dieser Phase zu Wort und wird von den anderen wertschätzend wahrgenommen.

Daten sammeln

In der dritten Phase steht das Sammeln von Informationen und Daten im Mittelpunkt. Der Moderator hat dazu zum Beispiel ein Flipchart vorbereitet, auf dem drei oder mehr Bereiche mit Fragen oder Begriffen für Feedback angelegt sind (vgl. Sammlung von Methodenbausteinen in J. Andresen). Neben der Abfrage der Fakten, kann explizit auch die Stimmung abgefragt werden, wenn sie nicht implizit in den Fragen enthalten ist.

Bei der Vorbereitung der Fragestellungen sollte der Moderator in sich selbst hineinspüren, welche Gefühle seine Fragen bei ihm selbst erzeugen. Auch die Fragestellung selbst kann eine Menge an unterschiedlicher Energie erzeugen oder vernichten! Das heißt es sollte eine positive Energiebilanz bei den Fragen entstehen, also mehr das positive als das, was noch verbessert werden kann, abgefragt werden. Nur in guter Energie werden auch wirkliche Schwachstellen erkannt.

Einsichten generieren

Dieser Phase wird oft nicht genügend Beachtung geschenkt und am liebsten würde man direkt dazu übergehen, Maßnahmen vorzuschlagen. Wichtig ist jedoch, dass das Team die Ursache und die Umstände versteht, damit es zielgerichtet Maßnahmen entwickeln und durchführen kann. Für diese Ursachenforschung sind wiederum Leitplanken wichtig: Leitfragen, Visualisierungen und das Verstehen von Zusammenhängen helfen dem Team beim Erkenntnisgewinn.

Wichtig ist auch, Personen und Verhalten zu trennen, aber klar zu benennen. Das heißt, nicht die Person an sich ist schlecht oder hat gar Schuld, sondern das Verhalten war unter Umständen ungünstig. Dabei kann die Frage helfen, warum die Person geglaubt hat, sie hätte zu diesem Zeitpunkt korrekt gehandelt. Das Offenlegen dieser individuellen Einschätzung kann tiefgreifende Erkenntnisse über Prozesse, Zusammenarbeit und Teamstrukturen liefern.

Maßnahmen beschließen

In dieser Phase diskutieren die Beteiligten mögliche Handlungsoptionen, wobei die beiden vorhergehenden Phasen dazu dienen eine Priorisierung der Maßnahmen zu erlauben. Bei der Aufstellung der Maßnahmen sind grundlegend drei Formen zu unterscheiden:

Zusammenarbeit: Ggf. werden im Team die Verhaltensregeln der Zusammenarbeit angepasst, oder neue Umgangsformen beschlossen, die für alle Beteiligten gemeinsam gelten und umgesetzt werden.

Aktivitäten vom Team: Das Team vereinbart Aufgaben, die einzelnen Teammitglieder übernehmen, im dem Sinne: wer, was bis wann erledigen wird.

Impediments: Hindernisse, die nur mit externer Hilfe beseitigt werden können. Hier unterstützen Führungskräfte oder Coaches das Team direkt bei der Beseitigung der Hindernisse.

Am Ende dieser Phase geht es wieder um das persönliche Commitment jedes Einzelnen. Die vereinbarten Änderungen dienen der Verbesserung der Zusammenarbeit im Sinne der gemeinsamen Ziele und sind entsprechend zu würdigen. Bei der Priorisierung der Maßnahmen sollten möglichst wenige Vereinbarungen getroffen werden. Je weniger sich das Team zusätzlich vornimmt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung. Auch hier gilt es wieder in kleinen Schritten kontinuierliche Veränderungen zu etablieren.

Outro, oder Retro-Retro

Am Ende gilt es die Team-Energie für die nächste Arbeitsphase einzufangen und auch diese Eindrücke wieder zu visualisieren:

  • Stimmungsbild der Beteiligten
  • Feedback zur Moderation
  • Feedback zum Ablauf
  • Ideenblitzlicht zur nächsten Retro

Die wertschätzende Zusammenfassung für den vertrauensvollen Umgang und die gewonnenen Erkenntnisse sollten einen energiefördernden Abschluss bilden. Ein Blitzlicht, dass ggf. neue Ideen für die nächste Retro liefert, kann auch zur Verbesserung der eigentlichen Zeremonie der Retro führen – daher Retro-Retro.

Diese Abschlussphase ist der Beginn der neuen Arbeitsphase und der Nutzen, sowie die Wirksamkeit sollte daher allen Beteiligten klar sein, vor allem, ihr eigenes Dazutun.

Fazit

In lernenden Organisationen können wertschätzende Retrospektiven für Teams und Abteilungen ein wahrer Booster sein, da sie im Prozess der Wertschöpfung wirksam dazu beitragen, dass die Organisation laufend lernt und sich verbessert. Erfahrungsgemäß werden sie in vielen Unternehmen häufig nicht systematisch und konsequent genutzt.

Entscheidend ist, dass Teams Retrospektiven als laufenden Prozess betrachten, anstatt sie als einmaliges Ereignis zu sehen. Indem die Teams regelmäßig Retrospektiven durchführen und die Ergebnisse umsetzen, können sie laufend lernen und sich verbessern, um die eigene Leistung zu verbessern und schließlich die Zufriedenheit beim Kunden weiter steigern.

Quellen

P. M. Senge, Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation (Systemisches Management), Schäffer-Poeschel; 11. völlig überarbeitete und aktualisierte Edition, 2017.

E. Derby, D. Larsen, Agile Retrospectives: Making Good Teams Great (Pragmatic Programmers), O’Reilly UK Ltd.; Illustrated Edition, 2006.

J. Andresen, Retrospektiven in agilen Projekten: Ablauf, Regeln und Methodenbausteine, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; 2., überarbeitete und erweiterte Edition, 2017.

Das Video ist Bestandteil des E-Learning Kurses “agilean Master”. Mehr Informationen und die ausführliche Beschreibung sind zu finden unter: https://coachify.online/courses/agilean-master-der-team-supporter/

Bildquellen Zitathintergrund Canva Pro, Bilder von Volkmar Langer

Autor/Autorin