Vielleicht kennst du das: “Letztes Mal haben wir genau besprochen, was der Kollege liefern soll. Doch was ist geschehen? Er hat wieder einmal etwas ganz anderes geliefert. Nun musst ich wieder dafür sorgen, dass die Sache in Ordnung gebracht wird. Immer dieser Kollege! Das gibt´s doch gar nicht! Was soll ich bloß noch machen?”
Wie fühlt sich diese Situation für dich an? Ist es eine Form der Ohnmacht oder Hilflosigkeit? Ist es Wut oder eher Trauer? Jedenfalls tauchen schlechte Gefühle auf, die deine Stimmung negativ beeinflussen. Du bist im wahrsten Sinne des Wortes „verstimmt“. Ein Zustand, der dir Energie raubt (vgl. Energiebilanz) und dich in deinen Handlungsoptionen weiter einschränkt.
Meine Haltung reflektieren
Hast du mal beobachtet, dass deine „Verstimmtheit“ eine Folge deiner automatischen Gedanken sein könnte? Wie denkt es dich im Moment? Bist du dir deiner Gedanken bewusst?
Hast du dir jemals bewusst gemacht, dass nicht die Situation selbst zu deiner Verstimmtheit führt, sondern deine Bewertung, also deine Gedanken? Na klar, du kannst dich darüber ärgern und beklagen: „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Das gibt´s doch gar nicht!“
Nur mache dir bitte ab jetzt bewusst: „Deine Bewertung und Rechthaberei führen zu Deinem eigenen Leid!“
Wie lange willst Du leiden? Wie kommst Du von dieser Ohnmacht wieder in die Eigen-Macht? Wie kommst Du in das Reich der Möglichkeiten, Deine Haltung frei zu wählen? (vgl. dazu Corssen)
Ambiguitäten – die Sache mit der Mehrdeutigkeit
Deine automatischen Gedanken liefern dir eine Bewertung, die aus einer anderen Perspektive ganz anders ausfallen könnte. Vielleicht hat der Kollege es einfach anders verstanden und deshalb auch nach seinem besten Wissen und Gewissen etwas anderes geliefert. Vielleicht hatten sich zwischenzeitlich aus Sicht des Kollegen die Rahmenbedingungen geändert und er hat versucht, das Beste daraus zu machen. Vielleicht …
Wir treffen unsere Entscheidungen und Bewertungen immer aufgrund von begrenzter Information und begrenztem Wissen. Neue Informationen können hinzukommen, die andere Perspektiven oder gar ein Umdenken erforderlich machen. Ambiguitäten, also Mehrdeutigkeit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit gehören zu den Grundaspekten menschlicher Existenz und sind nicht erst ein Produkt der „VUCA-Welt“.
Ambiguitätstoleranz beschreibt die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeit und Ungewissheit konstruktiv umzugehen. Dies setzt jedoch auch die Fähigkeit voraus, diese Ambiguitäten für eine gewisse Zeit ertragen zu können (vgl. Stangl, W. (2020)).
Ambiguitätstoleranz – eine entscheidende Zukunftsfähigkeit
Und genau diese Fähigkeit wird in einer zunehmend komplexeren, unsichereren und mehrdeutigeren Welt immer wichtiger. Im Beitrag über „Deine Haltung bestimmt deine Energiebilanz und umgekehrt!“ wird deutlich, dass deine Haltung direkt deine mentale Energie bestimmt. Deine mentale Energie bestimmt wesentlich, wie gut du dich verändern, anpassen oder lernen kannst. Sie ist lebenswichtig!
Eine weitere Konsequenz von Mehrdeutigkeit besteht darin, dass menschliches Handeln nur in begrenztem Maße planbar und die Folgen niemals genau vorhersehbar sind. Dies gilt sowohl bei individuellen Entscheidungen als auch dort, wo kollektives, soziales und politisches Handeln eine Rolle spielen.
Selbst-Bewusstheit erlangen – Freiheit gewinnen
Um an deiner Mehrdeutigkeitstoleranz zu arbeiten, ist der erste Schritt, dass du dir selbst deines Denkens, Fühlens und Verhaltens bewusst wirst. Allzu oft laufen unser Denken, Fühlen und Verhalten ganz automatisch ab, wie nach dem physikalischen Gesetz Aktion=Reaktion.
Oft geben wir unserem aktuellen Erleben ein und dieselbe Bedeutung. Wir etikettieren dies mit dem Label „Erfahrung“ und sind ebenfalls ganz automatisch nicht bereit, eine neue Erfahrung zu machen. „Soll sich doch der andere endlich anders verhalten!“
Mit Selbst-Bewusstheit ist hier gemeint: Ich bin mir meines Denkens selbst bewusst! Ich beobachte mich beim Denken! Ich bin frei in meiner Bewertung und wähle die Option, die mir hilft in eine gehobene Gestimmtheit (vgl. Corssen) zu kommen.
Meine Gefühle sind dabei der wichtigste innere Feedbackkanal, den ich ab jetzt immer öfter nutzen werde. Fühlt es sich gut an, dann bin ich auf dem richtigen Weg! Von einer „Ohnmachtshaltung“ zu einer Haltung der „Eigenmacht“.
Der Ambiguitätstoleranzreflektomat – Hilfe zur Selbst-Hilfe
Ein kleines Tool, der „Ambiguitätstoleranzreflektomat“ (vgl. NeueNarrative) kann dir dabei helfen, deine Mehrdeutigkeitstoleranz zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Es ist eine Form der Introspektive und läuft folgendermaßen ab:
- Nimm eine beliebige Situation, die du als besonders mehrdeutig, komplex und ungewiss wahrnimmst.
- Vermerke, wie du auf gedanklicher, verhaltensbezogener und gefühlsbetonter Ebene auf die Situation reagierst. In der Tabelle findest du einige Beispiele typischer Reaktionen auf diesen drei Ebenen. (Es ist durchaus möglich, auf den drei Ebenen sowohl tolerant als auch intolerant zu reagieren!)
- Bist du mit deiner Reaktion auf allen drei Ebenen zufrieden? Welche Reaktion würdest du dir stattdessen in dem Dreiklang wünschen?
- Was muss sich an der Situation oben ändern, um diese Reaktion herbeizuführen? (Lässt sich Komplexität bspw. durch das Einholen weiterer Informationen eingrenzen? Können mehr Ressourcen bereitgestellt werden? Lässt sich die Verantwortung aufteilen oder der Anspruch mindern?)
- Welche weiteren Kontext-Veränderungen (z.B. in deinem unmittelbaren Umfeld) oder persönlichen Entwicklungen würden künftig deine Reaktion verändern? (Rede in deinem Team über bestehende Ungewissheit und arbeitet iterativ!)
- Wie kannst du ab morgen darauf hinwirken?
Eine Anleitung und Vorlage kannst du von unserer Website herunterladen.
Gemeinsam ist es leichter – Leadership Coaching Challenge
Diese Introspektive kannst du jederzeit für dich selbst durchführen und dabei versuchen, eine für dich günstigere Perspektive durch ein gelungenes „Re-Framing“ einzunehmen. Einfacher ist es mit einem Buddy, also mit jemandem, dem du vertraust und der dich dabei unterstützt, neue Gedanken zu finden.
Um eine größere Perspektivenvielfalt zu bekommen, empfehle ich dir ein Zirkelformat zu nutzen, so dass du dich mit drei – vier vertrauten Personen in einem geschützten Raum austauschen kannst. Unsere Leadership Coaching Challenge nutzt diesen Ansatz nicht nur um unterschiedliche Perspektiven zu erfahren, sondern auch dazu, sich im geschützten Raum für 12 Wochen gegenseitig mit Hilfe von weiteren Tools und gezielten Fragen zu unterstützen.
Fazit
Ein individuelles Ziel könnte darin liegen, deine Haltung zu dem eingangs erwähnten Kollegen so zu ändern, dass es sich für dich gut anfühlt, du anschließend eine gelungene Beziehung zu ihm aufbauen und deine Mehrdeutigkeitstoleranz weiter entfalten kannst.
In einer komplexen Gesellschaft und in Anbetracht des raschen technologischen, sozialen und ökologischen Wandels werden unsere Zukunftserwartungen und -planungen zunehmend ungewisser. Damit wir trotz dieser Unvorhersehbarkeit handlungsfähig bleiben, ist die persönliche Ambiguitätstoleranz eine entscheidende Zukunftsfähigkeit.
Weitere Informationen
Wer sich für die Leadership Coaching Challenge “Meine Haltung entscheidet!” interessiert, findet hier weitere Informationen. Die 12 Wochen Challenge kann im eigenen Unternehmen oder in einem unternehmensübergreifenden Circle durchgeführt werden. In beiden Fällen ist der geschützte Raum des Circles eine Basisvoraussetzung für wirksames Peer-Coaching.
Quellen
Corssen J. und Ehrenschwendner S. (2016), Das Corssen-Prinzip: Die vier Werkzeuge für ein freudvolles Leben – Der Graphic Coach zur Selbstentwickler®-Methode – Mit Illustrationen von Florian Mitgutsch [Buch]. – München : Arkana in der Verlagsgruppe Random House GmbH (eBook), 2016. – 978-3-442-34167-2.
Stangl, W. (2020). Stichwort: ‘Ambiguitätstoleranz’. Onlinelexikon für Psychologie und Pädagogik, https://lexikon.stangl.eu/12220/ambiguitaetstoleranz/, zuletzt abgerufen, 14.09.2021.
Der Ambiguitätstoleranzreflektomat, Neue Narrative, Heft #09, Tool Nr. 38, Seite 110. Oder hier als Lernhack von Volkmar Langer.
Bildquellen
Zitathintergrund Canva Pro, Bilder von Volkmar Langer und Getty Images
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